Psychotherapie – zwischen systemischer Überlastung und fehlgeleiteter Erwartungshaltung
Psychotherapie – zwischen systemischer Überlastung und fehlgeleiteter Erwartungshaltung
Ein Allheilmittel, das keines ist
Die Psychotherapie gilt in der allgemeinen Wahrnehmung inzwischen als Allheilmittel bei mentalen Belastungen. Kaum steht eine Herausforderung im Raum, wird sie pathologisiert und als therapiebedürftig eingestuft. Der Satz „Such dir einen Therapeuten“ ist heute so selbstverständlich geworden wie eine Einladung zum Kaffee – mit fatalen Folgen.
Denn was viele Menschen nicht wissen: Auch der Psychotherapie sind klare Grenzen gesetzt – wie jeder anderen medizinischen Behandlung auch.
Psychotherapie ist ein hochwirksames Instrument bei psychischen Erkrankungen, aber sie stößt an ihre Grenzen, sobald es um alltagsrelevante Fähigkeiten und praktische Umstrukturierungen geht.
Notwendige Entwicklungsbelastungen – kein Zeichen von Krankheit
So unangenehm es klingen mag: Wir müssen endlich unterscheiden zwischen notwendigen Entwicklungsbelastungen und psychischen Störungen.
Entwicklungsbelastungen entstehen dort, wo neue Fähigkeiten erforderlich werden, um Probleme zu lösen – zum Beispiel finanzielle Kompetenz bei Überschuldung, klare Strategien in Erziehungsfragen oder Organisationsfähigkeit bei Überforderung im Alltag.
Wenn wir vor neuen Herausforderungen stehen, reagiert das Gehirn zunächst mit Überforderung – doch genau dieser Zustand ist notwendig, damit sich neue neuronale Verbindungen bilden. Das ist Neuroplastizität in Aktion.
Gesellschaftliche Fehlwahrnehmung: Überforderung ist kein Defekt
Die gesellschaftliche Entwicklung aber geht in eine andere Richtung: Schon das kleinste Gefühl der Überforderung wird als Zeichen von Krankheit gewertet. Damit verlernen wir, dass Wachstum immer mit Reibung einhergeht – und dass Anpassung kein Defizit, sondern eine Stärke ist.
Was viele nicht bedenken: Psychotherapie kann diese Lernprozesse nicht ersetzen.
Sie vermittelt keine finanziellen, sozialen oder organisatorischen Kompetenzen – und soll das auch gar nicht. Hier braucht es andere Strukturen, die Menschen befähigen, ihre Lebenskompetenzen zu erweitern.
Zwei Seiten derselben Überlastung
Die Folgen sind gravierend – für beide Seiten:
Während die Psychotherapie von Alltagsproblemen überflutet wird, für die sie nie gedacht war, bleiben schwerwiegende Erkrankungen zunehmend unversorgt. Gleichzeitig reagiert die Politik nicht mit Entlastung, sondern mit weiteren Auflagen – und treibt damit immer mehr Therapeuten selbst an die Grenze ihrer Belastbarkeit.
Auf der Seite der Betroffenen entsteht Enttäuschung:
Die erhoffte Erleichterung bleibt aus, die Therapiegespräche bleiben oft auf der Ebene der Ursachenklärung, während die konkrete Umsetzung im Alltag fehlt.
Viele beginnen, an sich oder am Therapeuten zu zweifeln – und geraten dadurch erst recht in eine Krise.
Was Psychotherapie wirklich ist – und was sie nicht sein kann
Wir müssen aufhören, Psychotherapie als Allheilmittel für Alltagsprobleme zu betrachten, und sie wieder als das begreifen, was sie ist:
Ein hochwirksames Verfahren zur Behandlung psychischer Erkrankungen.
Doch psychische Gesundheit bedeutet mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Sie verlangt nach Fähigkeiten, Anpassung und aktiver Gestaltung.
Neue Strukturen für eine neue Zeit
Was wir stattdessen brauchen, sind neue Strukturen, die Menschen befähigen, sich lebenslang weiterzuentwickeln – Strukturen, die Kompetenzen fördern, Orientierung geben und das Verständnis vermitteln, dass Anpassung und Lernen keine Schwäche sind, sondern die Grundlage mentaler Gesundheit.
Solange wir passiv darauf warten, dass veraltete Systeme sich selbst reformieren, wird sich nichts ändern.
Es ist Zeit, aktiv zu werden
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