Vom Tabu zum Trend – Wie psychische Erkrankungen zur Identität wurden

Vom Tabu zum Trend – Wie psychische Erkrankungen zur Identität wurden

„Ich habe schon alles im Umkreis abtelefoniert – ich bekomme einfach keinen Termin beim Psychotherapeuten.“
Dieser Satz ist zum Symbol unserer Zeit geworden. Man hört ihn in Freundeskreisen, am Arbeitsplatz, in Familien. Er steht für die wachsende Verzweiflung einer Gesellschaft, die mental überfordert ist – und die an einem System scheitert, das längst kollabiert.

Laut der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) wartet man in Deutschland heute durchschnittlich 142,4 Tage auf ein Erstgespräch. Doch was viele nicht wissen: Dieses Erstgespräch ist selten der Beginn einer Therapie. Danach folgen oft weitere sechs bis zwölf Monate Wartezeit, bis die eigentliche Behandlung beginnt.
In dieser Zeit sollen Menschen, die nicht mehr schlafen, die innerlich zittern, deren Alltag zerfällt, einfach ausharren. Und selbst wer auf einer Warteliste steht, muss regelmäßig anrufen, um seinen Platz zu behalten.
„Melden Sie sich bitte jede Woche – das zeigt uns, dass Sie es ernst meinen.“
Eine Anweisung, die man kaum erträgt, wenn man ohnehin kaum noch die Kraft hat, sich durch den Tag zu schleppen.

Von der Scham zur Selbstverständlichkeit

Über Jahrhunderte prägte ein düsteres Bild die Psychiatrie: Methoden, die heute als Folter gelten würden, Menschenversuche, Zwangsbehandlungen. Psychiatrien waren Zuchthäuser, keine Krankenhäuser. Das NS-Regime und seine Säuberungen verwurzelten die Angst vor diesem Bereich tief in der Gesellschaft. Manche Praktiken blieben bis zum Mauerfall in DDR-Kliniken erhalten.

Bis in die 1990er-Jahre war der Gang zum Psychotherapeuten ein stilles, angstbesetztes und schamhaftes Unterfangen. Wer Therapie machte, sprach nicht darüber – aus Angst, als „verrückt“ zu gelten oder gesellschaftlich abgestempelt zu werden.

Doch die 2000er- und 2010er-Jahre brachten eine Wende. Medien, prominente Persönlichkeiten und Kampagnen brachen das Schweigen. Spätestens nach dem Suizid des Nationaltorwarts Robert Enke stand das Thema Depression im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Menschen sprachen über Ängste, Zwänge und Überforderung. Schulen und Unternehmen begannen, mentale Gesundheit offen zu thematisieren. Diese Bewegung hat Millionen Menschen Mut gemacht – sie war notwendig und heilsam.

Der Weg hierher war notwendig – und gefährlich

Was als Befreiung begann, brachte auch neue Extreme hervor. Therapie ist heute gesellschaftsfähig geworden. Sie steht für Bewusstsein, Selbstreflexion und emotionale Intelligenz. „Ich bin in Therapie“ klingt wie „Ich arbeite an mir“.

Doch jeder Fortschritt bringt auch Schieflagen mit sich. Inzwischen stellen selbsternannte Experten Diagnosen, soziale Medien ersetzen Ärzte und wissenschaftliche Quellen. Diagnosen sind zum Statussymbol geworden, Therapie zum Trend. Wer keine Störung hat, gilt schnell als „unreflektiert“. Psychische Erkrankung ist Teil moderner Identität geworden.

Was früher ein Tabu war, ist heute fast eine Art Auszeichnung. Und damit verschiebt sich die Grenze: Zwischen echter Erkrankung und normalen Lebensbelastungen. Zwischen „Ich leide“ und „Ich lebe“. Trennung, Überforderung, Trauer, Orientierungslosigkeit – Dinge, die zum Leben gehören – werden zunehmend als psychische Störung etikettiert. Das hat Konsequenzen: Für die Gesellschaft, für das Gesundheitssystem und für die Wahrnehmung des Menschen selbst.

Die neue soziale Währung: Leiden

In einer Welt, die auf Sichtbarkeit und Resonanz ausgerichtet ist, wurde das eigene Leiden zum Zugangscode für Mitgefühl, Zugehörigkeit und Aufmerksamkeit. Soziale Medien treiben diesen Trend weiter an.

Während bis in die 1930er Jahre körperliche Anomalien in sogenannten „Freakshows“ zur Schau gestellt wurden, ist TikTok und Instagram heute die moderne Manege, in der seelisches Leid zur Unterhaltung wird. Früher waren Musiker oder Sportler Idole – heute sind es Influencer, die über Depression, Panikattacken oder Essstörungen sprechen. Sie geben Millionen Menschen das Gefühl, nicht allein zu sein – und doch entsteht eine gefährliche Dynamik: Leiden wird zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Um sichtbar zu bleiben, müssen die Geschichten immer extremer werden. Die Folge: Es grenzt fast an emotionalen Selbstmord, um Follower nicht zu verlieren. Wer krank ist, bekommt Aufmerksamkeit. Wer gesund wird, verschwindet aus dem Feed.

Das prägt unser Selbstbild – nicht nur individuell, sondern gesellschaftlich. Wir verlernen, gesund sein als Ziel zu sehen. Denn wo Aufmerksamkeit die neue Währung ist, wird Heilung zum Verlustgeschäft.

Die Romantisierung der Krankheit

Parallel dazu wächst eine kulturelle Tendenz, psychische Erkrankungen zu verklären. In spirituellen Kreisen gelten Depressionen als „Seelenprüfung“, Ängste als „Erwachen“, Burnout als „Ruf der Bestimmung“. Selbsternannte Heiler und Coaches befeuern dieses Narrativ. Statt Betroffene aus ihrer Dunkelheit zu führen, vertiefen sie sie – oft unbewusst. Denn wer seine Krankheit als Teil seiner Besonderheit empfindet, fürchtet, mit der Heilung auch seine Einzigartigkeit zu verlieren.

So bleiben viele in ihrem Zustand stecken – aus Angst, ihre „Bedeutung“ zu verlieren. Dabei opfern sie oft Familie, Beruf und Lebenssinn, nur um das Gefühl zu behalten, besonders zu sein. Je größer das Leid, desto größer scheint die Tiefe. Je dunkler die Seele, desto „echter“ der Mensch. Ein gefährliches Narrativ, das Leid über Heilung stellt und Krankheit als Beweis von Sensibilität verklärt.

Doch wer sich über sein Leiden definiert, verliert irgendwann die Motivation, gesund zu werden. Denn Heilung bedeutet dann, eine Identität aufzugeben, die Aufmerksamkeit, Zugehörigkeit und Sinn gestiftet hat.

Ein neues Extrem

Aus einem Tabuthema ist eine Trenddiagnose geworden. Vom Schweigen über das Leiden – zur Selbstinszenierung des Leidens. Wir leben in einer Zeit, in der es fast verdächtig wirkt, keine Störung zu haben. „Du hattest nie ein Trauma? Dann hast du wohl nie richtig gefühlt.“ Solche Aussagen kursieren in sozialen Netzwerken, in Seminaren, manchmal sogar in Therapieräumen.

Jetzt ist es an der Zeit, dass wir anfangen zu differenzieren. Die gesellschaftliche Offenheit für das Thema ist ein Fortschritt – aber wenn sie nicht mit Bewusstsein wächst, bleibt sie oberflächlich. Ganze Generationen wachsen mit dem Narrativ auf, dass Identität durch Leiden entsteht. Schon heute definieren sich zwei Generationen mehr über ihre Erkrankung als über ihre Entwicklung. Selbstaufgabe und Leid werden zum neuen Lebenssinn.

Fazit: Ein notwendiger Stoppmoment

Psychische Erkrankungen dürfen kein Statussymbol werden – aber sie dürfen auch nicht wieder ins Dunkel zurückfallen. Wir brauchen mehr differenzierende Aufklärung darüber, was seelische Entwicklung bedeutet und was wirkliche Erkrankung ist. Wir brauchen Systeme, die Menschen frühzeitig begleiten – in Phasen der Überforderung, Orientierungslosigkeit oder Krise. Systeme, die anleiten, bevor Therapie überhaupt notwendig wird.

Denn Therapie allein wird uns in Zukunft nicht retten – das sehen wir schon jetzt. Es ist Zeit, alte Denkstrukturen zu verlassen und neue zu schaffen. Wenn wir den Teufelskreis durchbrechen wollen, müssen wir dem Leben wieder Sinn geben. Verantwortung kann man nicht delegieren – man muss sie sich nehmen.

Wir brauchen eine neue Kultur des Verstehens – nicht des Verherrlichens. Eine Kultur, die Heilung sichtbar macht und Anreize schafft, gesund zu werden. Das Ziel kann nicht sein, dass jeder Mensch in Therapie geht. Das Ziel muss sein, dass nicht jeder Mensch eine Therapie braucht.

„Das Schweigen war gefährlich. Doch das permanente Reden ohne Handlung ist es auch.“

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